Was ist Kunst?

Kann man Kunst vermitteln oder unterrichten, ohne auf diese Frage eine Antwort zu suchen, oder sogar zu haben?
 Hier versuche ich es, einige oft zitierte Definitionen zu kommentieren. Und am Ende schildere ich meine bzw. unsere Haltung – die der Malschule.


 

 „Kunst ist die Königin aller Wissenschaften, die zu allen Generationen der Welt spricht“ (Leonardo da Vinci, 1452-1519). 


Aus dieser Definition ist es zu vernehmen, dass die Kunst sich auf das Ganze bezieht, während die Wissenschaften nur einen Aspekt der Wirklichkeit behandeln. Dass die Kunst Wahrheiten ausspricht, die ihre Gültigkeit im Laufe der Zeit nicht verlieren. In den Wissenschaften dagegen löst eine Wahrheit die andere ab. Möglicherweise das Wichtigste in der Aussage von Leonardo ist es, dass die Kunst und Wissenschaften als zwei große Bereiche der Kultur in ein klares Verhältnis gesetzt sind und der Begriff Kunst in Bezug zu Wissenschaften im Singular verwendet wird. Das Instrumentarium der Wissenschaften vermag es nicht, über das Ganze Aussagen zu machen, deshalb sind Wissenschaften den Weisungen der „Königin“ unterstellt. Im Unterschied zu den Wissenschaften, sind die Künste dazu in der Lage, sich in einem rituellen Akt zusammenzuschließen. Darin ist das Königtum der Kunst begründet. Große Kulturen der Vergangenheit, vor allem die alten Ägypter, liefern dafür hervorragende Beispiele. Auch die griechische Tragödie soll an dieser Stelle erwähnt werden. Kulturelle Krise der Neuzeit kann mit dem Verlust der Führungsposition der Kunst gegenüber den Wissenschaften und dadurch mit dem Verlust an der Sinnhaftigkeit des Daseins und enormer Zunahme der Weltmechanisierung begründet werden.

 

„Kunst ist überall dort, wo du danach suchst; lobe die blinkenden Sterne, denn sie sind Gottes unbekümmerte Kleckse.“(El Greco, 1541-1614)

El Greco meint anscheinend, dass die Kunst nicht etwas vom Menschen Unabhängiges ist. Ein Kunstwerk wird zu Kunst in dem lebendigen Akt der Wahrnehmung des suchenden Menschen. Kunst setzt einen suchenden Menschen voraus, und sie ist etwas Natürliches, Ungezwungenes. Kunst begleitet einen auf dem Weg der Selbstfindung und gibt das preis, was man eben in diesem Moment braucht um weiter zu kommen.

 

„Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen.“ (Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832)


Kunst als Vermittlerin der Stille? Der Klänge der Stille! Der Klänge der Stille von der menschlichen Seele. Kunst ist zuerst Kommunikation von Herz zu Herz. Nur das Unaussprechliche hat den Zugang zur Ganzheit, in der der Mensch seinen Frieden findet. Kunst ist Vermittlerin von bestimmten Inhalten, die nicht mit gewöhnlicher Sprache zu erfassen sind.

 

"Was ist Kunst? Verdichtete Natur.“ (Honore de Balzac, 1799-1850)


Kunst ist keine Schöpfung der Fantasie, sondern eine Schöpfung aus den Tiefen der menschlichen Seele. Sie ist der Natur nicht entgegengesetzt, sondern sie ist der Ausdruck der Natur in ihrer Ganzheit, in ihren räumlich-zeitlichen Dimensionen.

 

„Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur.“ (Paul Cézanne, 1839-1906)


Zwei Harmonien braucht der Mensch, um inneren Frieden zu finden. Die Harmonie der Natur und die Harmonie des Kunstwerks. Im Leben eines suchenden Menschen sind diese Harmonien im ständigen Austausch. Hier muss man sich die Bedeutung und das Wesen der Parallelität etwas genauer vor Augen halten. Parallelität ist ein Spannungsfeld zwischen zwei gleichwertigen, gleich starken, aber wesentlich unterschiedlichen Kräften. Die Kunst findet zu Harmonie nur in der parallelen Position zur Natur.

 

 „Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins.“ (Friedrich Nietzsche, 1844-1900)


Ja! Bejahung ist die Öffnung der Seele, Segnung ist der Akt der Hingabe ohne Wenn und Aber, Vergöttlichung ist Nicht-Mehr-Getrennt-Sein, eins werden mit dem Gott.

 

„Kunst ist eine verrückte Suche nach Individualität.“ (Paul Gauguin, 1848-1903)


Kunst bietet dem Künstler den Raum und das Instrumentarium dafür, nach eigenem Ich zu suchen und es zu nähren. Dafür muss man bereit sein, durch Feuer und Wasser zu gehen. Wenn man das schafft, dann ist man dazu in der Lage, Kunst zu machen. Davor sind es Übungen. Gauguin legt einen Akzent auf die Stufe des Suchens. Das ist insofern richtig, dass über diese Stufe kaum jemand weit hinausgekommen ist... Kunst ist nun das, was einen bis zum Abgrund herausfordert und aus einem ein Individuum, ein zusammenhängendes Ganzes macht.  

 

„Kunst ist nicht alles. Sie handelt nur von Allem.“ (Gertrude Stein, 1874-1964)


Da kann ich nur völlig zustimmen!

 

„Kunst ist die Flucht vor Persönlichkeit.“ (T.S. Eliot, 1888-1965)


Kunst als Rauschmittel? Kunst spricht tiefere Schichten des Menschen an, sie kann bis zu seinem Wesenskern eindringen.  Wenn man die Persönlichkeit als etwas Einengendes, Einschränkendes aufgreift, dann kann Kunst einen Weg zur Befreiung davon darstellen bzw. aufzeigen, einen Weg ins Freie, wo frischer Wind weht und neue Lebensinhalte sich finden lassen.

 

„Kunst ist nicht ein Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein Hammer, mit dem man sie gestaltet.“ (Karl Marx, 1818-1883)


Ich glaube, dass der Spiegel und der Hammer zusammen gehören. Der Spiegel als Instrument der Reflexion und der Hammer als Instrument der Gestaltung. Kunst ist ein magischer Spiegel, der es vermag, das Zukünftige und das Vergangene durch die Tat in Einklang zu bringen. Kunst vermittelt zwischen Realität und der Wahrheit und übt damit einen Einfluss auf die erste aus, versucht diese in Einklang mit der Wahrheit zu bringen .

 

Ein Bild ist eine Art Freundschaft oder Liebe zwischen dem Medium und dem Muster - ein als Abbild, Abdruck oder "Kuss" sich zu eigen gemachtes Urbild, Vorbild oder Modell. (Meister Echhart 1260-1328)

Da spricht die Wahrheit...

 

 Hier möchte ich die Schrift von Leo Tolstoi „Was ist Kunst“ vorstellen, indem ich den kritischen Aufsatz von Rudolf Steiner* zu dieser Schrift kommentiere.


„Graf Leo Tolstoi hat eine Schrift «Was ist Kunst?» veröffentlicht. Der russische Romancier hat sich, seit er unter die Moralprediger gegangen ist, die Sympathien eines großen Teiles seiner ehemaligen Verehrer zerstört. Der Inhalt seiner Morallehre steht durchaus nicht auf der Höhe seines Künstlertums. Eine Gefühlsmoral, die sich auf allgemeine Menschenliebe und Mitleid stützt und die auf Bekämpfung des Egoismus abzielt, ist dieser Inhalt. Verwässertes Christentum ist der beste Ausdruck, den man dafür finden kann. Vom Standpunkte dieser Morallehre beantwortet Tolstoi auch die Frage, die er sich jetzt stellt: «Was ist Kunst?» Zunächst weist er darauf hin, welch ungeheure menschliche Arbeitskraft dazu aufgewendet werden muss, um ein Werk der Kunst zustande zu bringen. Er geht von einer Opernprobe aus, bei der er einmal anwesend war. Er schildert, welche Zeit und Mühe eine solche Probe kostet und wie lieblos die Leiter derselben das Personal behandeln, mit dem sie es zu tun haben. Und dann sagt er sich: was kommt bei all der Mühe und Arbeit heraus?«Für wen geschieht denn das alles? Wem kann es gefallen? Wenn auch dann und wann in dieser Oper schöne Motive vorkommen, die angenehm zu hören sind, so könnte man sie doch einfach absingen, ohne diese dummen Verkleidungen, Aufzüge, Rezitative und Armschwingungen. Ein Ballett aber, in dem halb nackte Frauen sinnlich aufregende Bewegungen vorführen und sich in Girlanden verwickeln, ist nichts weiter als eine moralverderbende Vorstellung, so dass man nicht einmal begreifen kann, für wen sie berechnet ist. Ein gebildeter Mensch hat die Sachen satt bekommen, und ein gewöhnlicher Arbeiter versteht sie einfach nicht. Sie kann nur was ich auch noch bezweifeln möchte denen gefallen, die von sogenannten herrschaftlichen Vergnügungen noch nicht übersättigt sind, aber sich herrschaftliche Bedürfnisse angeeignet haben und ihreBildung zeigen wollen wie etwa junge Lakaien... Und diese ganze hässliche Dummheit wird nicht gutmütig, nicht einfach heiter, sondern mit Bosheit, mit tierischer Grausamkeit einstudiert.»Man muss, weil die Kunst solche Opfer fordert, sich fragen: Was ist der Zweck der Kunst? Was trägt die Kunst zum Ganzen der menschlichen Kulturentwicklung bei? Um sich diese Frage zu beantworten, hält Tolstoi Umschau bei den deutschen, französischen und englischen Ästhetikern, die über die Aufgaben der Kunst ihre Anschauungen veröffentlicht haben. Er kommt zu einem ungünstigen Urteil über diese Ästhetiker. Er findet, dass keine Übereinstimmung herrscht über den Begriff der Kunst. «Sieht man» sagt er «von den ganz ungenauen und den Begriff der Kunst nicht deckenden Definitionen der Schönheit ab, welche deren Wesen bald im Nutzen, bald in der Zweckmäßigkeit, bald in der Symmetrie, bald in der Ordnung, bald in der Proportionalität, bald in der Glätte, bald in der Harmonie der Teile, bald in der Einheit, bald in der Mannigfaltigkeit, bald in den verschiedenen Verbindungen dieser Prinzipien finden, sieht man von diesen ungenügenden Versuchen objektiver Definitionen ab, so können alle ästhetischen Bestimmungen der Schönheit auf zwei Grundansichten zurückgeführt werden: die erste, dass die Schönheit etwas für sich Bestehendes ist, eine der Erscheinungen des absolut Vollkommenen, der Idee, des Geistes, des Willens, von Gott,- und die zweite, dass die Schönheit ein gewisses von uns empfundenes Vergnügen ist, welches persönliche Vorteile nicht zum Zwecke hat.»  Tolstoi findet beide Ansichten unvollkommen, und er sieht den Grund der Unvollkommenheit darin, dass sie auf einer primitiven Ansicht von der menschlichen Kultur beruhen. Auf einer primitiven Stufe der Anschauungen sehen die Menschen auch den Zweck des Essens in dem Genüsse, den ihnen das Essen bereitet. Eine höhere Stufe der Einsicht ist die, wenn sie erkennen, dass die Ernährung und damit die Förderung des Lebens der Zweck des Essens ist, und wenn sie den Genuss nur als eine untergeordnete Beigabe betrachten. In gleicher Weise steht der Mensch auf einer niedrigen Stufe, welcher glaubt, dass der Zweck der Kunst in dem Genüsse der Schönheit bestehe. «Um die Kunst genau zu definieren, muss man vor allen Dingen aufhören, sie als Mittel zum Genuss zu betrachten, dagegen muss man in der Kunst eine der Bedingungen des menschlichen Lebens sehen. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, müssen wir zugeben, dass die Kunst eines der Mittel zum Verkehr der Menschen untereinander ist.» Nicht als Selbstzweck lässt Tolstoi die Kunst gelten. Die Menschen sollen einander verstehen, lieben und fördern; das ist ihm der Zweck jeder Kultur. Die Kunst soll nur ein Mittel sein, diesen höheren Zweck zu verwirklichen. Durch die Worte teilen sich die Menschen ihre Gedanken und ihre Erfahrungen mit. Der Einzelne lebt durch die Sprache in und mit dem Ganzen des Menschengeschlechtes. Was Worte allein nicht vermögen, um dieses Zusammenleben hervorzubringen, das soll die Kunst bewirken. Sie soll die Empfindungen und Gefühle von Mensch zu Mensch vermitteln, wie es die Worte mit den Erfahrungen und Gedanken machen. «Die Tätigkeit der Kunst beruht darauf, dass der Mensch, in dem er durch das Ohr oder das Auge den Ausdruck der Gefühle eines anderen wahrnimmt, diese Gefühle nachzuempfinden vermag.»Ich glaube, dass von Tolstoi übersehen wird, welchen Ursprung die Kunst hat. Nicht auf die Mitteilung kommt es dem Künstler zunächst an. Wenn ich eine Erscheinung der Natur oder des Menschenlebens sehe, so treibt mich ein ursprünglicher Trieb dazu, mir im Geiste ein Bild von dieser Erscheinung zu machen. Und meine Phantasie dringt mich dazu, dieses Bild in einer Weise um- und auszugestalten, die gewissen Neigungen in mir entspricht. Zur Ausgestaltung dieses Bildes bediene ich mich der Mittel, die meinen Fähigkeiten entsprechen. Wenn diese Mittel die Farben sind, so male ich, und wenn es die Vorstellungen sind, so dichte ich. Ich tue das nicht, um michmitzuteilen, sondern weil ich das Bedürfnis habe, mir von der Welt Bilder zu machen, die meine Phantasie mir eingibt. Ich bin nicht zufrieden mit der Gestalt, welche die Natur und das Menschenleben für mich haben, wenn ich sie bloß als passiver Zuschauer betrachte. Ich will Bilder machen, die ich selbst erfinde oder die ich doch wenn ich sie auch von außen aufnehme in meiner Weise wiedergebe. Der Mensch will nicht bloßer Betrachter, er will nicht reiner Zuschauer den Weltereignissen gegenüber sein. Er will auch aus Eigenem etwaszu dem hinzu erschaffen, das von außen auf ihn eindringt. Deshalb wird er Künstler. Wie dies Geschaffene dann weiter wirkt, ist eine Folgeerscheinung. Und wenn von der Wirkung der Kunst auf die menschliche Kulturgesprochen werden soll, so mag Tolstoi Recht haben. Aber die Berechtigung der Kunst als solche muss, unabhängig von ihrer Wirkung, in einem ursprünglichen Bedürfnisse der menschlichen Natur gesucht werden.“

*Rudolf Steiner
. GRAF LEO TOLSTOI.
WAS IST KUNST?
 Magazin für Literatur, 67. Jg., Nr. 17, 30. April 1898 (GA 30, S. 370-373)

Ich habe den Kommentar von Steiner gewählt, um eine übliche Meinung über den Ursprung der Kunst, die er vertritt und als „Übersehen“ von Tolstoi deutet, im Zusammenhang mit Tolstois Meinung über die Kunst zu besprechen.
 Kunst stellt Formeln dar, die den Menschen vom Mutterschoß bis zum Graben begleiten. Zuerst passiv als Wiegenlieder, Märchen, Bilder, Musik, dann auch aktiv durch Zeichnen und Malen, Singen und Tanzen usw. bis zum Abschiedsritual nach dem Tode. Diese Formeln halten die Einsichten der einzelnen Menschen, die verschiedene Aspekte der Welt im Zusammenhang mit dem Ganzen zum Inhalt haben, fest, um sie dann durch ein bestimmtes Erlebnis den Anderen mitzuteilen. Erst kommt die Einsicht, das Verstehen und dann das Bedürfnis nach Mitteilen und dessen Notwendigkeit. Dieses Mitteilen ist der Ursprung jedes Lernens und Lehrens und damit auch der Kunst.

Um die Einsichten zu kommunizieren, sie über lange Zeiten vor Verfälschung zu schützen und allen zugänglich zu machen, bedarf es einer bestimmten Sprache, die wir als Kunst bezeichnen. Die Einsichten, oder Botschaften, werden von Generation zu Generation tradiert. Tradieren bedeutet allerdings noch nicht, dass man es versteht. Deswegen braucht jede Generation Menschen, die diese Formeln verstehen und sie unter Umständen für die Zeitgenossen so verändern, dass diese besser verstanden werden können. Kunst ist nie zufällig, sie ist ein Ergebnis von gezielten und bewussten Handlungen. Äußerlich kann etwas nach Kunst aussehen, aber in der Tat ist es nur eine Übung oder ein Versuch. Wenn der Mensch ohne Hilfe der Anderen zur Wahrheit, zum Verstehen gelangen könnte, dann gäbe es das, was wir Kunst nennen, nicht.

Die ursprüngliche Kraft der Kunst ist integrativ: Sie bildet einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund der Gesellschaft. Das Wesen dieser Kraft ist die Wahrheit. Sie bleibt unverändert. Deren Aspekte und Erscheinung sind allerdings zeitabhängig. Jede Generation stellt andere Aspekte der Wahrheit in den Vordergrund und sucht nach einer zeitgemäßen Erscheinungsform.
 Dass die Metabotschaft der individuellen Leistung des Künstlers weicht, zeigt auf die Schwäche des kulturellen Hintergrunds, wodurch die gemeinsamen Werte der Gemeinschaft zu schwanken beginnen. Die Tolstois Definition der Kunst als „eine der Bedingungen des menschlichen Lebens“ und „eines der Mittel zum Verkehr der Menschen untereinander“ betont einen sehr wichtigen Aspekt. Tolstoi lehrt uns unter anderem, zwischen der Kunst und dem Kunstwerk zu unterscheiden. Kunst ist ein Ereignis, eine Interaktion zwischen dem Werk der Kunst und dem Menschen. Erst in diesem Ereignis findet das Kunstwerk seinen Sinn und Zweck. Wir leben in einer Welt mit vielen Kunstwerken und gleichzeitig mit sehr wenig Kunst. Bei meinem letzten Konzertbesuch hatten mehrere Zuhörer mit Ihren Handys hantiert und das Konzert stückweise gefilmt. Ein großer Komponist und ein großes Kunstwerk (in diesem Fall war es das 3. Konzert von Rachmaninov), ein großartiger Dirigent und Orchester sowie einer der weltbesten Pianisten geben in diesem Fall keine Garantie dafür, dass ein Kunst-Ereignis stattfindet. Auf einer Studienreise nach Italien hatten wir uns mehrere romanische Kirchen angeschaut. Wir waren vor allem von ganz kleinen, kunstgeschichtlich unbedeutenden Kirchen tiefst beeindruckt, weil wir dort die richtige Atmosphäre erlebt haben: keine großen Parkplätze, keine Touristen, keine Verkaufsständer. Ein Ereignis, die Kunst also, ist eine hoch sensible und sehr intime Angelegenheit. Das ist ein Ritual. Kunstwerke zu sehen oder zu hören heißt es noch nicht, dass man etwas von Kunst mitbekommen hat, dass eine Begegnung zwischen dem Betrachtenden und dem Kunstwerk stattgefunden hat. Die Fähigkeit, die Potenz des Werks ein Kunst-Ereignis zu sein entsteht in dem Prozess seiner Hervorbringung, in dem Schöpfungsakt. Für Künstler ist dieser Prozess das eigentliche Ereignis. In dem Wahrnehmungsakt des Kunstwerks wird es widergespiegelt, wird immer aufs Neue erlebbar. Die Kunst im Sinne von Ereignis würde man hiernach als Nachahmungsakt der Schöpfung bzw. des Schöpfungsaktes definieren.

Im Prozess der Weltaneignung versucht der Künstler für alles, was er vorfindet und wahrnimmt, was er denkt, liebt und glaubt, eine passende Maßeinheit zu finden, um dann diese in die Sprache der jeweiligen Kunstgattung zu übersetzen. Um ein Kunstwerk zu schaffen, muss der Künstler in drei bestimmten Eigenschaften der Welt kundig sein. Als Erstes muss man sich mit dem Aspekt Raum auseinandergesetzt haben. Als Zweites tief in die Problematik der Zeitvermessung eindringen,  und als Drittes muss man die Bedeutung von allem, was in der Welt ist, zu verstehen lernen.
Die Tätigkeit des Künstlers kann als Vermessung der Welt, und ein Kunstwerk als sinnvolle Zusammenwirkung von diesen Vermessungsergebnissen bezeichnet werden, als eine Schöpfung, die den Sinn und die Architektur der Welt zugänglich, erlebbar und verständlicher macht.